Donnerstag, 13. Dezember 2007
Als eine Klinik zwei Babys vertauschte ( Tschechien)
Es ist noch Früh am Morgen, und im südmährischen Örtchen Pribyslavice ist schon Hektik ausgebrochen. Jan Cermak ist zeitig mit dem Auto auf holpriger Landstraße aufgebrochen, um Nikola aus dem Nachbarort Jablonov abzuholen. Die Kleine, fast ein Jahr alt, wird den Tag in Pribyslavice verbringen. Nicola ist Cermaks leibliche Tochter. Doch der kräftige Mann weiß das erst seit einigen Wochen. Denn Nikola ist bei der Geburt in der Klinik von Trebic vertauscht worden.

Cermak und seine Frau haben ein Kind aufgezogen, das nicht ihres ist: Veronika. Zur Welt gebracht hat es Jaroslava Trojanova, die Lebenspartnerin von Libor Broza aus Jablonov. Dass die Babys nach der Geburt vertauscht worden sind, ist vor ein paar Wochen nur durch Zufall herausgekommen. Seither ist in Pribyslavice und Jablonov nichts mehr wie zuvor.
Als Jan Cermak mit seiner leiblichen Tochter Nikola nach Hause kommt, werden die beiden froh begrüßt. Jaroslava schließt ihre "neue" Tochter in die Arme, dabei schießen ihr Tränen in die Augen. Ihre vermeintliche Tochter Veronika, die mit der "Mama" zur Begrüßung zur Tür gerannt ist, bemerkt das nicht. Sie will gleich mit der neuen Freundin spielen, die sie fast jeden Tag sieht, mal zu Hause, mal in Jablonov. Sie hat schon die Bausteine auf dem Teppich ausgebreitet und zieht Nikola ins geheizte Wohnzimmer, um dort mit ihr zu spielen. Es ist eine schöne Szene, die nach Glück aussieht. Doch Jaroslava und Jan Cermak durchleiden wie das andere Elternpaar in Jablonov einen Albtraum.
Alles begann am 9. Dezember vergangenen Jahres. Noch ist nicht genau klar, was damals passierte. Fakt ist, dass Jaroslava Cermakova und Jaroslava Trojanova an jenem Tag ihr jeweils erstes Kind zur Welt brachten. Kurz hintereinander, im Abstand von 18 Minuten. "Wir waren völlig euphorisch", erinnerte sich Libor Broza später. "Das Gefühl, endlich unser erstes Kind in die Arme schließen zu können, war unglaublich schön." Einen Tag später, als Libor zum Stillen seiner Tochter wieder in die Geburtsklinik von Trebic kam, war er etwas überrascht. Seine Tochter schien ihm ein wenig schmaler zu sein, als er sie vom Vortag in Erinnerung hatte. Aber an eine Verwechslung mochte er nicht ernsthaft glauben. "Wo gibt es schon so etwas. Höchstens in einem schlechten Film." Außerdem war das Kind, das seiner Lebensgefährtin an die Brust gelegt wurde, eindeutig gekennzeichnet. Als er wegen des geringen Gewichts bei einer Schwester nachfragte, wurde ihm geantwortet, dass man sich beim ersten Wiegen der Kleinen sehr wahrscheinlich "etwas vertan" habe. Man habe denn auch in den Akten das Geburtsgewicht "leicht korrigiert". Als die beiden Kinder mit ihren Müttern die Geburtsstation verlassen, sind jegliche Zweifel ausgeräumt, so sie denn überhaupt ernsthaft bestanden hatten.
Doch diese Zweifel kommen Libor Broza. Nach vier Monaten deutet sich an, dass sich das blonde Haar "seiner" Tochter nicht verdunkelt. Und das, obwohl in der ganzen Familie, auch in der seiner Lebensgefährtin, alle dunkelhaarig sind, und das seit vielen Generationen. Seine Kollegen, denen er seine Tochter stolz präsentiert hatte, beginnen zu spaßen. Erst hinter seinem Rücken, dann ganz offen, sprechen sie das böse Wort vom "Gehörnten" aus.
Broza steht völlig neben sich. Der Zweifel nagt in ihm. Schließlich will er endgültige Klarheit. Er macht hinter dem Rücken seiner Lebensgefährtin einen DNA-Test. Das Ergebnis ist niederschmetternd: Er ist tatsächlich nicht der leibliche Vater von Nikola. Jaroslava beschwört ihn, nicht auf das Geschwätz der Kollegen zu hören. Als sie sich nicht mehr zu helfen weiß, entschließt auch sie sich ebenfalls zu einem DNA-Test. Das Ergebnis: Sie ist nicht die leibliche Mutter von Nikola. Des Kindes, das sie gehegt und gepflegt hat, für das sie nachts aufgestanden ist, wenn es nur das kleinste Anzeichen eines unruhigen Schlafes gab. Des Kindes, das sie bis heute stillt, mit dem sie besonders in diesen Minuten ganz und gar eins ist, wie sie sagt.
Die Eltern aus Jablonov beginnen hektisch zu recherchieren. Sehr schnell stoßen sie auf die Cermaks. Es hat nur vier Mädchengeburten an jenem 9. Dezember 2006 in der Klinik von Trebic gegeben. Weitere Tests bestätigen das Unglück: Die beiden Mädchen Nikola und Veronika müssen zwangsläufig vertauscht worden sein.
Das zu wissen ist allein schon furchtbar. Aber noch viel schwerer ist es, die Frage zu beantworten, was nun geschehen soll. "Als wir das Ergebnis des Tests hatten, haben wir zwei Stunden geweint", sagt Jaroslava Trojanova und hört nicht mehr auf zu reden, als habe sich all das in ihr angestaut: "Ich habe mich gefragt, wer hat die ganze Zeit meine wirkliche Tochter geküsst? Als ich dann zum ersten Mal mein Kind sah, war ich total verwirrt. Sicher, es hatte Libors Nase und seinen Mund und meine Augen. Aber dieses Kind war mir trotzdem völlig fremd, ich spürte keinerlei Bindung zu ihm. Das war traumatisch, aber auch für die Cermaks, die falschen Eltern. Das Schlimmste aber ist, dass ich meine falsche Tochter über alles liebe. Wie kann ich das Kind einfach im Stich lassen, das doch im Grunde mein eigenes ist? Werde ich jemals eine wirkliche Beziehung zu einem fremden Kind, diesem fremden Kind aufbauen können?"
Beide Paare entschließen sich nach einiger Bedenkzeit dennoch, die Kinder zurückzutauschen. Die mittlerweile täglichen Begegnungen sollen helfen, sich aneinander zu gewöhnen. Doch die Eltern haben mittlerweile lernen müssen, dass der Rücktausch nicht so einfach werden wird. "Ursprünglich hatten wir uns gedacht, der erste Geburtstag von Nikola und Veronika könnte ein geeignetes Datum sein. Doch wir haben gemerkt, dass wir das psychisch nicht durchstehen werden", gesteht Jaroslava Cermakova im Angesicht der selbstvergessen mit den Bauklötzen spielenden Kinder im Haus in Pribyslavice. Ihr Blick streift dabei die beiden Mädchen. Nach dem Mittagessen wird deutlich, wie ungleich die Mädchen sind. Nikola quengelt, will ins Bett zu einem Mittagsschlaf. Veronika dagegen ist munter, will weiterspielen. Jan Cermak quält noch ein anderes Problem. Er soll am kommenden Montag eine neue Arbeitsstelle antreten. Dann wäre seine Frau jeden zweiten Tag mit den beiden Mädchen tagsüber allein. "Das verkraftet sie nicht", flüstert er besorgt. Eigentlich wisse er selbst kaum, wie er all das verkraften soll.
Ratschläge kommen aus allem Ecken Tschechiens. Die meisten Briefschreiber empfehlen den unglücklichen Eltern zusammenzuziehen. Das klingt auf den ersten Blick einleuchtend. Aber praktisch ist das nur schwer zu bewerkstelligen. Die Häuser der beiden Paare sind dafür nicht ausgelegt. Aber ganz abwegig scheint diese Idee zumindest für die Cermaks nicht zu sein. Finanziell werden sie abgesichert sein. Kein Gericht in Tschechien dürfte ihre millionenschwere Klage gegen die Geburtsklinik zurückweisen. Vielleicht hat dieser unglückselige 9. Dezember zwei Familien für immer vereint.
Am Abend fährt Cermak seine leibliche Tochter Nikola zurück nach Jablonov. Morgens früh holt Libor Broza seine leibliche Tochter Veronika aus Pribyslavice ab. Sie wird dann den Tag bei ihren "richtigen" Eltern verbringen. "Der Weg zum Glück ist weiter als dieser 40 Kilometer lange Weg zwischen unseren Orten", sagt Cermak. "Momentan noch ist unser Leben völlig auf den Kopf gestellt."
Im nahen Trebic fließt derweil die Jihlava wie immer gemächlich vor sich hin. Es wird kälter. Bald ist Weihnachten, der Termin, den sie sich gesetzt haben, um die Kinder zu tauschen. Cermak sagt, er frage sich oft, wie viel Wasser noch den Fluss hinunterfließen muss, bis der Albtraum wirklich vorbei ist? Bis er sicher weiß, welches Kind zu ihm gehört und welches nicht? Bis er es auch so fühlt? Niemand, auch nicht er selbst, wagt auf diese Fragen derzeit eine Antwort.

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